Sechs Sekunden, die eine ganze Kulturrevolution prägten – sie sind zurück! Jack Dorsey, der Mann, der Vine 2017 als Twitter-CEO abschaltete, finanziert nun mit seiner gemeinnützigen Organisation „and Other Stuff“ den Neustart der Kult-App. Unter dem Namen „diVine“ kehren über 100.000 archivierte Sechs-Sekunden-Videos zurück ins digitale Leben. Das Projekt verspricht nicht nur eine Nostalgie-Welle, sondern auch eine Neuausrichtung sozialer Medien mit Fokus auf Authentizität, Kreativität und KI-freien Inhalten.
Von der Archivierung zur digitalen Wiedergeburt
Als Twitter 2016 das Ende von Vine ankündigte, rettete das „Archive Team“ – ein unabhängiges Kollektiv von Internet-Archivaren – Hunderttausende der kurzen Videoclips. Diese wurden als massive 40-50 GB große Binärdateien gespeichert, scheinbar für immer im digitalen Äther verloren.
Evan Henshaw-Plath, bekannt unter seinem Online-Pseudonym „Rabble“ und einer der frühen Twitter-Mitarbeiter, verbrachte Monate damit, diese Daten zu rekonstruieren. Das Ergebnis: Rund 150.000 bis 200.000 Videos von etwa 60.000 Erstellern konnten gerettet werden – darunter viele der bekanntesten Vine-Hits, die zwischen 2013 und 2017 Internetkultur prägten.
Die Rettungsaktion umfasst nicht nur die Videos selbst, sondern auch Metadaten wie Views und Kommentare, die das soziale Ökosystem der ursprünglichen Plattform widerspiegeln.
Dorseys dezentrale Vision gegen KI-Überflutung
Mit einer 10-Millionen-Dollar-Finanzspritze über seine StartSmall-Stiftung verfolgt Dorsey einen radikal anderen Ansatz als die meisten sozialen Netzwerke. DiVine basiert auf Nostr, einem dezentralen Protokoll, das ohne Venture-Capital, ohne „toxische Geschäftsmodelle“ und ohne riesige Entwicklerteams auskommt. „Nostr ermöglicht es Entwicklern, eine neue Generation von Apps zu erstellen“, erklärt Dorsey. Das Open-Source-Prinzip erlaubt es jedem, eigene Apps einzurichten und eigene Medienserver zu betreiben – eine Plattform, die „nicht aufgrund der Laune eines Unternehmensbesitzers abgeschaltet werden kann“.
KI-Sperre als Authentizitätsgarantie
In einer Zeit, in der KI-generierte Inhalte soziale Medien überfluten, geht diVine einen Gegenweg: Die App blockiert verdächtige KI-generierte Videos komplett. Zur Verifizierung nutzt das Team Technologie der Menschenrechts-NGO Guardian Project, die bestätigt, dass Uploads tatsächlich auf einem Smartphone aufgenommen wurden.
„Unternehmen sehen KI-Engagement und denken, dass die Leute es wollen. Wir streben jedoch nach Handlungsfreiheit in unseren Online-Interaktionen“, erklärt Henshaw-Plath. „Es gibt eine klare Sehnsucht nach den gemeinschaftsorientierten frühen Tagen von Web 2.0, über bloße Engagement-Metriken hinaus.“
Diese Haltung trifft offenbar einen Nerv: Innerhalb von nur vier Stunden nach Ankündigung meldeten sich bereits 10.000 Nutzer für das TestFlight-Programm der App an.
Wettrennen mit Elon Musk
Ironischerweise kündigte auch Elon Musk – der aktuelle Besitzer von X (ehemals Twitter) – im August 2025 an, das Vine-Archiv wiederherstellen zu wollen: „Wir haben kürzlich das Vine-Video-Archiv gefunden und arbeiten daran, den Benutzerzugang wiederherzustellen.“ Bisher blieb es jedoch bei der Ankündigung.
Dorsey und sein Team waren schneller. Die diVine-App ist bereits für iOS und Android unter divine.video verfügbar und ermöglicht es Nutzern nicht nur, im Archiv zu stöbern, sondern auch eigene neue Sechs-Sekunden-Clips zu erstellen und zu teilen.
Kreative Renaissance statt algorithmischer Filterblase
DiVine verkörpert eine Gegenbewegung zu algorithmusgetriebenen Plattformen. „Können wir etwas machen, das uns zurückbringt zu einer Ära der sozialen Medien, in der man Kontrolle über seine Algorithmen haben konnte? Wo man wählen konnte, wem man folgt, und es ist nur dein Feed, und wo man weiß, dass es eine echte Person ist, die das Video aufgenommen hat?“, fragt Henshaw-Plath.
Für Content-Ersteller bietet diVine zudem Kontrolle über ihre Inhalte: Vine-Urheber können ihre alten Videos entweder per DMCA-Anfrage entfernen lassen oder sich als rechtmäßige Eigentümer verifizieren und so die Kontrolle über ihre Kreationen zurückerlangen.
Zurück in die kreative Zukunft
DiVine ist mehr als nur ein nostalgisches Revival – es ist ein Statement für eine andere Art sozialer Medien. In einer Zeit, in der TikTok und Instagram Reels auf immer längere Videoformate setzen, kehrt diVine zum kreativen Minimalismus zurück: Sechs Sekunden, die zum Nachdenken anregen, zum Lachen bringen oder überraschen – ohne algorithmische Manipulation und KI-Filter.
Für Marken und Kreative bietet sich hier die Chance, in einem authentischen Umfeld wieder jene Kreativität zu entfalten, die Vine einst zur Kulturschmiede machte. Die Beschränkung auf sechs Sekunden zwingt zu Präzision und Originalität – Qualitäten, die im heutigen Content-Überfluss selten geworden sind.
techcrunch.com – Jack Dorsey funds diVine, a Vine reboot that includes Vine’s video archive (Sarah Perez)
futurism.com – Jack Dorsey Releases Vine Reboot Where AI Content Is Banned
Photo by Drew Angerer/Getty Images