Dieselbe Cornflakes-Packung, derselbe Laden, dieselbe Zeit. Aber ihr zahlt bis zu 23% mehr als der Kunde neben euch? Was nach digitaler Abzocke klingt, ist bei US-Lieferdienst Instacart anscheinend längst Realität. Der Online-Lebensmittelhändler nutzt wohl ausgeklügelte KI-Systeme, um individuelle Preise für jeden Kunden festzulegen. Selbst wenn ihr die Waren persönlich abholt.
Das digitale Preisexperiment: So unterschiedlich zahlen Instacart-Kunden
Iihr bestellt online einen Warenkorb mit alltäglichen Lebensmitteln zur Selbstabholung im nächsten Supermarkt. Was ihr nicht wisst: Der Algorithmus hat euch bereits in eine „Preisgruppe“ einsortiert. Der Kunde, der exakt dieselben Produkte zur selben Zeit im selben Geschäft bestellt, zahlt womöglich deutlich weniger. Oder eben mehr.
Ein umfangreicher Test von Consumer Reports, Groundwork Collaborative und More Perfect Union bringt jetzt die Dimension dieser Praxis ans Licht. Bei drei Vierteln aller getesteten Produkte schwankten die Preise – durchschnittlich um 13 Prozent zwischen günstigstem und teuerstem Angebot. Bei einer Packung Cornflakes betrug die Differenz sogar 23 Prozent. Für denselben Warenkorb zahlten Kunden in Seattle zwischen 114,34 und 123,93 Dollar – eine Differenz von knapp 10 Dollar für identische Produkte.
Besonders brisant: Diese Preisunterschiede treten sogar auf, wenn Kunden die Waren selbst im Geschäft abholen – Lieferkosten spielen also keine Rolle. Bei einem Safeway-Laden in Seattle waren 92 Prozent aller Testkäufer von höheren Gesamtpreisen betroffen.
Hinter den Kulissen: So funktioniert Instacarts KI-Preismaschine
Was oberflächlich wie zufällige Preisschwankungen erscheint, ist in Wirklichkeit ein hochkomplexes System zur Gewinnoptimierung. Instacart hat im September 2022 das KI-Unternehmen Eversight übernommen, dessen Technologie nun das Herzstück der dynamischen Preisgestaltung bildet. Eversight wurde 2013 gegründet und hat seinen Sitz in Palo Alto, Kalifornien. Die Algorithmen erstellen sogenannte „orthogonale Arrays von Datenpunkten“ – im Klartext: Sie analysieren euer Kaufverhalten bis ins kleinste Detail.
Die digitale Preisfalle: Wer zahlt am meisten drauf?
Die Preisunterschiede folgen keinem Zufallsprinzip. Die KI-Systeme nutzen eine Vielzahl von Faktoren, um eure „Preissensitivität“ einzuschätzen – also wie viel ihr bereit seid zu zahlen, bevor ihr abspringt.
Zu den analysierten Datenpunkten gehören eure Kaufhistorie, demografische Merkmale, der Standort und sogar das Wetter in eurer Region. Seid ihr ein Neukunde oder ein treuer Stammkäufer? Kauft ihr regelmäßig Bio-Produkte oder achtet ihr penibel auf den Preis? All diese Informationen fließen in die Preisberechnung ein.
Das System gruppiert Kunden in verschiedene „Preisgruppen“ und testet kontinuierlich, wie weit es gehen kann. Bei einem Dutzend Lucerne Eier in einem Safeway in Washington, D.C. wurden gleich fünf verschiedene Preispunkte getestet: 3,99 Dollar, 4,28 Dollar, 4,59 Dollar, 4,69 Dollar und 4,79 Dollar.
Hochgerechnet auf das Jahresbudget einer durchschnittlichen Familie könnte diese Praxis zu Mehrkosten von rund 1.200 Dollar pro Jahr führen, basierend auf einer durchschnittlichen Preisdifferenz von 7%.
Die Testmethodik: So wurden die versteckten Preisunterschiede aufgedeckt
Um die systematischen Preisunterschiede nachzuweisen, rekrutierten die Forscher 437 Teilnehmer, von denen 193 hochwertige Daten für die Analyse lieferten. In Online-Videokonferenzen wurden die Teilnehmer angeleitet, identische Warenkörbe mit 18-20 Artikeln auf Instacart zusammenzustellen.
Die Tests fanden in Filialen von Safeway und Target in Seattle, Washington D.C., Saint Paul und North Canton statt. Die Teilnehmer erfassten in Echtzeit Screenshots der angezeigten Preise, die später analysiert wurden. Ein zusätzlicher Bestätigungstest mit 88 Freiwilligen zeigte ähnliche Preisdifferenzen bei Albertsons, Costco, Kroger und Sprouts.
Die Ergebnisse waren eindeutig: Je nach Filiale variierte der Anteil der Testkäufer in verschiedenen Preisgruppen erheblich. Während einige Glück hatten und den niedrigsten Preis erhielten, zahlten andere deutlich mehr.
Die offizielle Reaktion: Was sagt Instacart zu den Vorwürfen?
Auf seiner Unternehmenswebsite betont Instacart, dass nur zehn ausgewählte Einzelhandelspartner die Experimentierstrategien nutzen. Das Unternehmen erklärt zudem, dass Endkunden nicht wissen, dass sie Teil eines Experiments sind, und dass die Preisunterschiede „klein“ bzw. „nebensächlich“ seien. In einer neueren Stellungnahme fügt Instacart hinzu: „These tests are not dynamic pricing“ und „prices are not adjusted in real time based on supply and demand or on customers‘ personal data, such as income or shopping history“.
Die betroffenen Supermarktketten reagieren unterschiedlich. Während Safeway, Kroger und Costco keine Stellungnahmen abgaben, betonte Target, dass es keine direkte Partnerschaft mit Instacart bezüglich der Preisgestaltung gebe. Instacart greife lediglich auf öffentlich zugängliche Preise zu – eine Aussage, die angesichts der nachgewiesenen systematischen Preisunterschiede fragwürdig erscheint.
Verbraucherschützer schlagen Alarm: „Kunden sind keine Labormäuse“
Die Enthüllungen haben scharfe Kritik von Verbraucherschützern ausgelöst. Justin Brookman von Consumer Reports findet deutliche Worte: „Es ist beunruhigend, dass Unternehmen Algorithmen nutzen, um jeden von uns zum Höchstpreis zu bewegen – das ist nicht fair, vor allem nicht in Zeiten, in denen Lebensmittelpreise ohnehin steigen.“
Lindsay Owens von Groundwork Collaborative geht noch weiter: „Instacart hat die einfache Tätigkeit des Lebensmitteleinkaufs in ein High-Tech-Preisspiel verwandelt – Verbraucher sind keine Versuchskaninchen und sollten nicht eine Art Instacart-Steuer zahlen müssen.“
Die Kritik zielt vor allem auf die fehlende Transparenz ab. Anders als bei Flugbuchungen oder Hotelreservierungen, wo dynamische Preise als normal gelten, erwarten Verbraucher im Lebensmittelhandel faire und einheitliche Preise. Dass Instacart ohne Wissen der Kunden Preisexperimente durchführt, untergräbt das Vertrauen in digitale Einkaufsplattformen grundlegend.
Regulatorische Folgen: Behörden nehmen algorithmische Preisgestaltung ins Visier
Die Federal Trade Commission (FTC) hat bereits angekündigt, verstärkt gegen individualisierte, algorithmische Preispraktiken vorzugehen. Verschiedene US-Bundesstaaten wie New York, Colorado, Kalifornien, Georgia, Illinois und Pennsylvania erwägen Gesetze, die transparente und faire Preissetzung fordern.
In New York steht der „Algorithmic Pricing Disclosure Act“ nicht mehr zur Debatte, sondern ist am 10. November 2025 in Kraft getreten. Die exakte Formulierung der verpflichtenden Offenlegung lautet: „THIS PRICE WAS SET BY AN ALGORITHM USING YOUR PERSONAL DATA“. Zudem drohen Strafen bis zu 1.000 Dollar pro Verstoß. Das Gesetz hat bereits eine Verfassungsklage überstanden und die regulatorische Dynamik verstärkt. Im Jahr 2025 wurden mindestens 50 Gesetzentwürfe zur Regulierung algorithmischer Preisgestaltung in 24 Bundesstaaten eingebracht.
Auf Bundesebene wurde der „Stop AI Price Gouging and Wage Fixing Act of 2025“ von Congressman Greg Casar (D-Texas) zusammen mit Congresswoman Rashida Tlaib (D-Michigan) am 23. Juli 2025 eingebracht. Der Gesetzentwurf wird inzwischen von 22 Demokraten im Repräsentantenhaus unterstützt.
Diese Initiativen könnten weitreichende Folgen für den gesamten E-Commerce-Sektor haben. Denkbar sind Transparenzanforderungen wie die verpflichtende Offenlegung „DIESER PREIS WURDE DURCH EINEN ALGORITHMUS UNTER VERWENDUNG IHRER PERSÖNLICHEN DATEN FESTGELEGT“ oder sogar ein komplettes Verbot individualisierter Preisgestaltung auf Basis persönlicher Daten.
Branchenvergleich: Warum die Praxis im Lebensmittelhandel besonders problematisch ist
Dynamische Preisgestaltung ist in vielen Branchen längst Realität. Bei Flugtickets, Hotelzimmern oder Konzerttickets akzeptieren Verbraucher, dass verschiedene Kunden unterschiedliche Preise zahlen – sei es aufgrund des Buchungszeitpunkts oder der Nachfrage.
Der entscheidende Unterschied: In diesen Branchen ist die Praxis transparent und nachvollziehbar. Im Lebensmittelhandel hingegen gelten andere Erwartungen. Nahrungsmittel sind essenzielle Güter, und die Erwartungshaltung bei Supermarktpreisen ist, dass alle Kunden denselben Preis zahlen.
Instacart sticht durch seine intransparenten, individuell variierenden Preise hervor und hat damit eine Debatte über ethische Grenzen in der algorithmischen Preisfestsetzung ausgelöst. Während andere Online-Händler ebenfalls mit dynamischen Preisen experimentieren, geschieht dies meist mit geringfügigen oder klar kommunizierten Unterschieden.
Technologische Weiterentwicklung: Wohin führt der Trend der KI-Preisoptimierung?
Die enthüllten Praktiken sind vermutlich erst der Anfang einer Entwicklung, die den gesamten Einzelhandel erfassen könnte. KI-getriebene Preisoptimierung wird kontinuierlich verfeinert, was potenziell zu noch differenzierteren, wenn auch undurchsichtigen Preisen führen kann.
Technisch gesehen kombinieren die Systeme bereits heute Machine Learning mit dynamischen Preisstrategien. Sie nutzen „Smart Rounding“ und manipulative Referenzpreise (fiktive Originalpreise), um Rabatte attraktiver erscheinen zu lassen. Die nächste Generation dieser Systeme könnte noch tiefere Einblicke in das Konsumverhalten gewinnen und die Preisdifferenzierung weiter perfektionieren.
Für Verbraucher bedeutet dies: Ohne regulatorische Eingriffe könnten digitale Einkaufsplattformen zunehmend zu undurchsichtigen Preislaboren werden, in denen jeder Kunde individuell abkassiert wird.
Schutzmechanismen: Wie ihr euch gegen algorithmische Preismanipulation wehren könnt
Solange keine klaren gesetzlichen Regelungen existieren, müsst ihr selbst aktiv werden, um nicht in die Preisfalle zu tappen. Mehrere Strategien können helfen, die Auswirkungen algorithmischer Preismanipulation zu minimieren.
Vergleicht Preise systematisch, indem ihr dieselben Produkte in verschiedenen Browser-Sessions oder auf unterschiedlichen Geräten in den Warenkorb legt. Nutzt private Browsing-Modi oder VPNs, um eure digitalen Spuren zu verwischen und die Preisalgorithmen zu verwirren.
Besonders effektiv: Legt Produkte in den Warenkorb und lasst sie dort für einige Zeit liegen. Viele Plattformen bieten dann Rabatte an, um den Kauf abzuschließen. Vergleicht zudem regelmäßig die Online-Preise mit den tatsächlichen Preisen im Geschäft – oft lohnt sich der Gang zum lokalen Supermarkt.
Die digitale Preisrevolution: Zwischen Innovation und Verbraucherschutz
Die Instacart-Enthüllungen markieren einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen digitalen Plattformen und Verbrauchern. Was technisch möglich ist, stößt zunehmend auf ethische und rechtliche Grenzen. Die Frage ist nicht mehr, ob algorithmische Preisgestaltung reguliert wird, sondern wie umfassend die Eingriffe sein werden.
Für die Branche bedeutet dies eine grundlegende Neuausrichtung. Transparenz und Fairness könnten zu entscheidenden Wettbewerbsvorteilen werden, während versteckte Preismanipulationen das Vertrauen der Kunden nachhaltig schädigen.
Die kommenden Monate werden zeigen, ob sich die Branche selbst reguliert oder ob gesetzliche Eingriffe notwendig werden. Eines ist jedoch sicher: Das Bewusstsein der Verbraucher für algorithmische Preismanipulation ist geweckt – und damit auch die Bereitschaft, sich gegen unfaire Praktiken zur Wehr zu setzen.
Digitale Preistransparenz als Zukunftsmodell
Die Enthüllungen rund um Instacarts Preispraktiken könnten ironischerweise der Auslöser für eine neue Ära der digitalen Preistransparenz sein. Statt versteckter Algorithmen könnten künftig offene Preismodelle zum Standard werden, bei denen Verbraucher genau nachvollziehen können, wie Preise zustande kommen.
Einige innovative Unternehmen experimentieren bereits mit transparenten Preismodellen, bei denen Kunden selbst entscheiden können, wie viel persönliche Daten sie preisgeben möchten – mit entsprechenden Auswirkungen auf den Preis. Diese Ansätze könnten den Weg in eine fairere digitale Handelswelt weisen, in der Technologie nicht zur Manipulation, sondern zur Schaffung echter Win-win-Situationen eingesetzt wird.
Von der Preisfalle zur Preischance: Der Ball liegt bei den Verbrauchern
Die aktuelle Entwicklung zeigt: Im digitalen Zeitalter ist Preistransparenz keine Selbstverständlichkeit mehr. Was früher am Preisschild im Supermarkt für alle gleichermaßen sichtbar war, wird heute durch komplexe Algorithmen individualisiert und verschleiert.
Doch die Macht liegt letztlich bei euch als Verbrauchern. Durch bewusstes Einkaufsverhalten, kritisches Hinterfragen von Preisunterschieden und aktive Unterstützung von Regulierungsinitiativen könnt ihr dazu beitragen, dass der digitale Handel fair und transparent bleibt.
Die Instacart-Enthüllungen sind ein Weckruf – nicht nur für die Lebensmittelbranche, sondern für den gesamten E-Commerce. Sie zeigen, dass wir an einem Scheideweg stehen: Akzeptieren wir eine Zukunft, in der Algorithmen versteckt unsere Zahlungsbereitschaft ausspionieren? Oder fordern wir ein digitales Handelsumfeld, in dem Fairness und Transparenz nicht verhandelbar sind?
consumerreports.org – Instacart’s AI-Enabled Pricing Experiments May Be Inflating Your Grocery Bill (Derek Kravitz)
groundworkcollaborative.org – Same Cart, Different Price: Instacart’s Price Experiments Cost Families at Checkout
cnn.com – Instacart’s AI technology is hiking prices as much as 20% for the same item, new study reveals (Jordan Valinsky)
ftc.gov – FTC Issues Orders to Eight Companies Seeking Information on Surveillance Pricing
techcrunch.com – Instacart acquiring AI-powered pricing, promotions platform