Die digitale Transformation der politischen Kommunikation nimmt Fahrt auf – und die Generation Z ist mittendrin. Was früher über Fernsehen, Zeitung und Elternhaus vermittelt wurde, findet heute in kurzweiligen Videos auf TikTok und Instagram statt. Die jüngste Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt: Für 74 Prozent der 16- bis 27-Jährigen sind diese Plattformen die wichtigsten Quellen für politische Informationen. Ein Paradigmenwechsel, der nicht nur die Kommunikationslandschaft verändert, sondern auch neue Chancen für authentische politische Vermittlung eröffnet.
Die neue politische Heimat: Warum TikTok und Instagram klassische Medien verdrängen
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Über drei Viertel der jungen Menschen in Deutschland informieren sich heute primär über Social Media zu politischen Themen. Traditionelle Informationskanäle wie Schule, Familie, Zeitungen und Fernsehen haben den Anschluss verloren. Besonders bemerkenswert: 80 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen folgen mindestens einem Content Creator, 60 Prozent gezielt politischen Influencern.
Diese Entwicklung markiert einen fundamentalen Wandel in der politischen Kommunikation. Was früher über redaktionell geprüfte Inhalte und institutionelle Kanäle lief, findet heute in persönlichen, direkten und oft emotional aufgeladenen Kurzvideos statt. Der Grund liegt auf der Hand: Die visuell ansprechende, unterhaltsame Aufbereitung komplexer politischer Themen macht diese zugänglicher und ansprechender für eine Generation, die mit Smartphones und sozialen Medien aufgewachsen ist.
Methodische Einblicke: So wurde die digitale politische Kommunikation erforscht
Die Bertelsmann-Studie „How to sell democracy online (fast)“ liefert dank eines beeindruckenden methodischen Ansatzes tiefe Einblicke in die digitale politische Meinungsbildung. Für die Untersuchung wurden rund 31.000 Kurzvideos auf TikTok und Instagram mittels KI-gestützter Inhaltsanalyse ausgewertet. Ergänzend dazu führten die Forscher eine repräsentative Online-Befragung mit 1.748 jungen Menschen zwischen 16 und 27 Jahren durch, die vom Meinungsforschungsinstitut Pollytix durchgeführt wurde, flankiert von Fokusgruppen und quantitativen Selektionsexperimenten. Diese Kombination verschiedener Forschungsmethoden erlaubt einen umfassenden Blick auf die Nutzungsgewohnheiten, Präferenzen und Wirkungsmechanismen politischer Kommunikation in sozialen Medien. Die Datenerhebung fand von Juni bis Dezember 2024 statt.
Die Macht der Emotionen: Welche Inhalte wirklich Reichweite erzielen
Ein zentrales Ergebnis der Studie: Nicht alle politischen Inhalte haben die gleiche Chance auf Aufmerksamkeit. Themen wie Migration erzielen eine um rund 11 Prozent höhere Sichtbarkeit, während Inhalte zu Sozialpolitik, Bildung und Umwelt geringere Reichweiten aufweisen.
Der Ton macht jedoch den entscheidenden Unterschied. Populistische und radikale Akteure erreichen im Schnitt 40 Prozent höhere Aufrufzahlen mit angreifenden Videoclips. Die AfD beispielsweise setzt in 73 Prozent ihrer Videos auf Angriffe – und wird dafür vom Algorithmus mit Reichweite belohnt.
Moderate politische Stimmen und etablierte Politiker schneiden mit rund 38 Prozent Followern deutlich schlechter ab. Besonders aufschlussreich: Politische Infografiken – obwohl von vielen Nutzern theoretisch gewünscht – erzielen in der Praxis geringere Reichweiten als persönliche, emotionale Statements.
Diese Dynamik zeigt, dass auf TikTok und Instagram vor allem eines zählt: Authentizität, persönliche Nähe und emotionale Ansprache. Wer komplexe politische Inhalte in 15 bis 60 Sekunden verpacken und dabei eine persönliche Verbindung herstellen kann, gewinnt die Aufmerksamkeitsschlacht.
Authentizität schlägt Perfektion: Die neue politische Kommunikation
Die Zeiten gestylter Politikerauftritte vor perfekt ausgeleuchteten Kulissen weichen zunehmend einer authentischeren Form der Kommunikation. Social-Media-Experte Marlon Giglinger betont: „Authentizität ist das wichtigste Gut in Social Media.“ Diese steht im starken Kontrast zu traditionellen, durchinszenierten Auftritten.
Auch Kommunikationswissenschaftlerin Katharina Kleinen-von Königslöw beobachtet diesen Trend und stellt fest: „Merz scheut nicht, seine Kommunikation auf die eigene Person zuzuschneiden.“ Politiker, die in Videos Einblicke in ihren Alltag geben und persönliche Standpunkte teilen, erzielen nachweislich höhere Interaktionsraten als jene, die auf klassische Formate setzen.
Die Kehrseite der Medaille: Risiken der Social-Media-Politik
Die Verlagerung politischer Diskurse auf TikTok und Instagram bringt nicht nur Chancen mit sich. Ein wesentliches Risiko liegt in der algorithmischen Verzerrung: Die Plattformen priorisieren Inhalte, die emotional ansprechen, und können dadurch extremistisches oder angreifendes Material überproportional verbreiten. Dies führt zu einer verzerrten Wahrnehmung politischer Realitäten.
Zudem entsteht durch die fast ausschließliche Nutzung sozialer Medien eine einseitige Informationsbasis. Wenn junge Menschen traditionelle Informationsquellen kaum noch konsultieren, fehlt die kritische Einordnung und Kontextualisierung politischer Aussagen.
Ein weiteres Problem: Die Methodik zur Klassifikation politischer Inhalte ist für Follower und Forscher oft undurchsichtig. Mangelnde Transparenz erschwert die Überprüfung und kann zu Fehlinformationen führen. Diese Herausforderungen zeigen, dass die neue Form politischer Kommunikation zwar Barrieren abbaut, aber gleichzeitig neue Hürden für eine ausgewogene Meinungsbildung errichtet.
Digitale Demokratie: Wie ihr die Chancen der politischen Social-Media-Kommunikation nutzen könnt
Die Erkenntnisse der Bertelsmann-Studie bieten wertvolle Anknüpfungspunkte für alle, die in der politischen Kommunikation aktiv sind oder werden wollen. Authentizität steht dabei an erster Stelle: Zeigt echte Persönlichkeit statt perfekt inszenierte Auftritte. Junge Menschen schätzen Einblicke hinter die Kulissen, persönliche Standpunkte und eine direkte Ansprache.
Setzt auf visuelle Stärke und emotionale Geschichten. Komplexe politische Themen lassen sich durch persönliche Geschichten und konkrete Beispiele zugänglicher machen. Kurze, prägnante Videos mit klarer Botschaft funktionieren besser als lange Erklärungen.
Denkt plattformübergreifend. Da junge Menschen sowohl TikTok als auch Instagram intensiv nutzen, kann eine koordinierte Kommunikationsstrategie über beide Kanäle die Reichweite und Glaubwürdigkeit erhöhen. Passt eure Inhalte dabei an die jeweiligen Plattformspezifika an.
Medienkompetenz: Der Schlüssel zur ausgewogenen Meinungsbildung
Angesichts der dominanten Rolle von TikTok und Instagram in der politischen Meinungsbildung junger Menschen wird die Förderung von Medienkompetenz immer wichtiger. Schulen, Eltern und politische Institutionen sollten gemeinsam die Fähigkeit stärken, Informationen kritisch zu hinterfragen und algorithmische Verzerrungen zu erkennen.
Workshops und Bildungsprojekte zur digitalen Medienkompetenz können einen nachhaltigen Beitrag leisten, um junge Menschen zu befähigen, die Vielfalt politischer Standpunkte zu erkennen und einzuordnen. Dabei geht es nicht darum, soziale Medien als Informationsquelle zu verteufeln, sondern ihre Stärken und Schwächen zu verstehen.
Eine kontinuierliche Evaluation der politischen Kommunikation über Social Media mittels moderner Analysemethoden sollte etabliert werden, um Trends frühzeitig zu erkennen und gegen Desinformation vorzugehen. Nur so kann die Qualität des politischen Diskurses in digitalen Räumen langfristig gesichert werden.
Internationale Perspektive: Deutschland im globalen Vergleich
Deutschland steht im internationalen Vergleich relativ gut da, was die Integration junger Menschen in digitale Diskurse betrifft. Studien belegen, dass in westlichen Demokratien der Anteil junger Menschen, die über digitale Kanäle politische Informationen beziehen, durchschnittlich über 70 Prozent liegt.
Die Herausforderungen der digitalen politischen Kommunikation sind jedoch länderübergreifend ähnlich: Algorithmen bevorzugen emotionale, polarisierende Inhalte, während differenzierte Darstellungen es schwerer haben, Reichweite zu erzielen. Diese Dynamik ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern ein globales Phänomen der digitalen Öffentlichkeit.
Die Zukunft der politischen Kommunikation gestalten
Die Verlagerung politischer Diskurse auf TikTok und Instagram ist keine vorübergehende Erscheinung, sondern markiert einen grundlegenden Wandel in der politischen Kommunikation. Für politische Akteure, Medien und Bildungseinrichtungen ergeben sich daraus neue Herausforderungen und Chancen.
Entscheidend wird sein, wie die verschiedenen Stakeholder diesen Wandel aktiv gestalten. Politische Akteure müssen lernen, authentisch und zielgruppengerecht zu kommunizieren, ohne in Populismus abzugleiten. Plattformbetreiber tragen Verantwortung für mehr Transparenz und ausgewogenere Algorithmen. Und Bildungseinrichtungen sind gefordert, junge Menschen zu kritischen, mündigen Mediennutzern zu erziehen.
Der digitale Raum bietet einzigartige Möglichkeiten für eine lebendige Demokratie: niedrigschwellige Partizipation, direkter Dialog zwischen Politik und Bürgern, kreative Vermittlung komplexer Inhalte. Diese Potenziale zu nutzen und gleichzeitig die Risiken zu minimieren, wird eine der zentralen gesellschaftlichen Aufgaben der kommenden Jahre sein.
Digitale Demokratie braucht digitale Kompetenz
Die Ergebnisse der Bertelsmann-Studie machen deutlich: TikTok und Instagram sind keine oberflächlichen Unterhaltungsplattformen mehr, sondern zentrale Arenen der politischen Meinungsbildung junger Menschen. Diese Entwicklung bietet Chancen für eine direktere, authentischere politische Kommunikation – birgt aber auch Risiken durch algorithmische Verzerrungen und die Dominanz emotionaler, polarisierender Inhalte.
Die Zukunft einer lebendigen digitalen Demokratie hängt davon ab, ob es gelingt, die Potenziale dieser neuen Kommunikationsformen zu nutzen und gleichzeitig ihre Schwächen auszugleichen. Dafür braucht es medienkompetente Bürger, verantwortungsvolle Plattformen und politische Akteure, die authentisch kommunizieren, ohne in Populismus zu verfallen.
Der digitale Wandel der politischen Kommunikation ist in vollem Gange. Ihn aktiv zu gestalten, statt ihm nur zu folgen, wird entscheidend sein für die Qualität unserer demokratischen Diskurse in der Zukunft.
bertelsmann-stiftung.de – How to sell democracy online (fast)
zdfheute.de – Politik und Social Media – Studie
tagesspiegel.de – Klassifikation politischer Kurzvideos
morgenpost.de – TikTok und Instagram als primäre Informationsquelle
handelsblatt.com – Soziale Medien: Wie sich Friedrich Merz erfolgreich im Netz inszeniert
statista.com – Social Media Report
bertelsmann-stiftung.de – Social Media sind essenziell, um junge Menschen mit politischen Themen zu erreichen
horizont.net – Studie der Bertelsmann Stiftung: TikTok und Instagram sind wichtigste Politik-Kanäle für junge Menschen