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Brisanter TikTok-Report: die App sammelt systematisch sensible Daten von Kindern – ein Weckruf nach mehr Medienkompetenz

TikTok nutzt biometrische Technologien – inklusive Gesichtserkennung – um sensible Informationen über seine Nutzer zu sammeln.

Von Nico Wirtz

Gerade haben wir den Artikel über eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht, die zeigt, dass 74 Prozent der jungen Deutschen sich ihre politischen Informationen hauptsächlich von TikTok und Instagram holen. Einen Wimpernschlag später kommt die Brisante Meldung der kanadischen Datenschutzbehörden, wie TikTok systematisch Daten von Hunderttausenden Kindern unter 13 Jahren sammelt – obwohl diese laut eigenen Nutzungsbedingungen gar nicht auf der Plattform sein dürften. Der Zusammenhang? So perfide wie genial: Eine ganze Generation bildet sich ihre Meinung über eine Plattform, die offenbar bewusst wegschaut, wenn Minderjährige ihre Inhalte konsumieren (weil die nun mal fantastische Werbe-Zielgruppen sind). Willkommen in der schönen neuen Welt der algorithmischen Meinungsmache.

Die Datenkrake kennt keine Altersgrenzen

Die kanadische Untersuchung liest sich wie ein Lehrbuch für modernes Datensammeln ohne Skrupel: TikTok nutzt biometrische Technologien – inklusive Gesichtserkennung – um sensible Informationen über seine Nutzer zu sammeln. Dieselbe Technologie, die problemlos das Alter von Usern erkennen könnte? Wird nicht dafür eingesetzt, minderjährige Nutzer fernzuhalten.

Das ist so, als würde ein Türsteher vor dem Club perfekt erkennen können, wer minderjährig ist – aber trotzdem jeden reinlassen, weil die Kids halt gutes Geld für überteuerte Cocktails ausgeben. Nur dass hier keine Cocktails verkauft werden, sondern Aufmerksamkeit und politische Überzeugungen.

Die Zahlen lassen zumindest aufhorchen: TikTok entfernt etwa 500.000 kanadische Minderjährige pro Jahr von der Plattform. Aber wie die Datenschützer trocken anmerken, ist das wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs – viele weitere bleiben unentdeckt, solange sie keine Inhalte posten.

Deutschland: Wenn Algorithmen Demokratie erklären

Parallel dazu die deutschen Erkenntnisse: Social Media ist für drei Viertel der 16- bis 27-Jährigen zur wichtigsten politischen Informationsquelle geworden. Noch vor Familie, Schule oder – Gott bewahre – klassischen Medien wie Zeitungen. (Ja, die gibt’s noch. Nein, die lesen junge Menschen nicht mehr.)

Das Spannende: 60 Prozent der jungen Deutschen folgen politischen Influencern, aber nur 38 Prozent echten Politikern oder Parteien. Man könnte das charmant als „Demokratisierung der politischen Kommunikation“ verklären. Realistischer ist es ein gigantisches Outsourcing der Meinungsbildung an selbsternannte Experten, die ihre Glaubwürdigkeit oft weniger durch Kompetenz als durch Reichweite legitimieren.

Der perfekte Sturm: Unwissen trifft auf Manipulation

Was haben wir also? Eine Generation, die ihre politischen Überzeugungen über Plattformen bezieht, die:

  • systematisch Daten sammeln (auch von Minderjährigen)
  • intransparente Algorithmen nutzen
  • wirtschaftliche Interessen über Jugendschutz stellen
  • keine demokratische Kontrolle kennen

Das ist, als würde man die politische Bildung einer ganzen Generation internationalen Tech-Konzernen und deren Werbenetzwerken überlassen – ohne demokratische Kontrolle, ohne Transparenz, aber mit maximaler Profitorientierung. Was ja auch praktisch genau das ist, was gerade passiert.

Die kanadischen Datenschützer bringen es auf den Punkt: Bei Kindern unter 13 gibt es „bestimmte Dinge, die einfach zu weit gehen“ – auch wenn die Kids auf „Einverstanden“ klicken. Aber mal ehrlich: Verstehen 16-Jährige wirklich besser, was passiert, wenn sie ihre Daten gegen „kostenlosen“ Content tauschen?

Lösungsweg: Die neue digitale Aufklärung

Bevor jetzt alle in Panik verfallen und ihre Kinder ins Digitaldetox-Kloster schicken: Das Problem ist lösbar. Aber es braucht mehr als ein paar besorgte Elternabende.

Erstens: Medienkompetenz als Kernfach. Nicht als netter Zusatz, sondern als eigenständiges Pflichtfach ab der Grundschule. Kinder müssen verstehen: Kostenlose Apps werden mit Daten bezahlt, Algorithmen sind nicht neutral, und wenn dir jemand auf TikTok erklärt, wie die Welt funktioniert, hat er meist andere Motive als deine Aufklärung.

Zweitens: Echte Altersverifikation. Die Technologie existiert bereits – TikTok nutzt sie nur nicht konsequent für den Jugendschutz. Das muss sich ändern, notfalls durch Regulierung mit Zähnen.

Drittens: Algorithmus-Transparenz. Wenn drei Viertel einer Generation ihre politische Bildung über Black-Box-Algorithmen beziehen, dann haben wir als Demokratie ein Recht zu verstehen, wie diese funktionieren.

Die Chance in der Krise

Ja, die Situation ist beunruhigend. Aber sie bietet auch eine riesige Chance: Wir können die erste Generation heranziehen, die wirklich versteht, wie digitale Manipulation funktioniert. Die kritisch hinterfragt, warum ihnen bestimmte Inhalte gezeigt werden. Die souverän mit diesen mächtigen Tools umgeht, statt von ihnen benutzt zu werden.

Medienkompetenz ist das neue Lesen und Schreiben. Wer sie nicht beherrscht, wird in der digitalen Welt zum funktionalen Analphabeten – und funktionale Analphabeten waren noch nie besonders gut darin, funktionierende Demokratien zu gestalten.

Die Alternative? Wir überlassen die Meinungsbildung einer ganzen Generation weiterhin Algorithmen, die wir nicht verstehen, Plattformen, denen wir nicht vertrauen können, und Influencern, die wir nicht kontrollieren. Das kann nicht unser Ernst sein.

About the author

Bild von Nico Wirtz

Nico Wirtz

Der gelernte TV-Journalist hat Nachrichten und Dokumentationen gemacht, ebenso wie Talk und Entertainment für ProSieben, Kabeleins und TELE5 - am Ende ist es immer die gute Geschichte, die zählt. Emotionales Storytelling zieht sich durch sein ganzes Leben - ob als Journalist, PR- und Kommunikations-Profi, der für große Marken, wie BOGNER, L'Oréal oder Panthene an Kampagnen mitgewirkt hat, oder hier bei MARES als Chefredakteur.
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