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ChatGPT und das Web: Warum KI-Modelle bei aktuellen Inhalten oft versagen

Eine Umfrage des Pew Research Centers zeigt: Ganze 67% der ChatGPT-Nutzer glauben fälschlicherweise, dass die KI Echtzeit-Zugang zum Web hat. Noch bedenklicher: 43% überprüfen die Aktualität der erhaltenen Informationen überhaupt nicht.

Aktuell, präzise und zuverlässig – diese drei Eigenschaften erwartet ihr von KI-Assistenten wie ChatGPT. Doch gerade bei brandaktuellen Informationen stoßen selbst die fortschrittlichsten KI-Modelle noch an Grenzen. Der Grund dafür ist überraschend einfach: ChatGPT „surft“ nicht wirklich im Internet, wie viele annehmen. Diese Fehleinschätzung führt zu falschen Erwartungen und manchmal sogar zu folgenschweren Entscheidungen auf Basis veralteter oder schlichtweg falscher Informationen.

Die Wahrheit hinter dem vermeintlichen Web-Zugang von ChatGPT

Die häufigste Fehlvorstellung über ChatGPT ist die Annahme, das System würde wie ein digitaler Assistent in Echtzeit durchs Internet surfen, um eure Fragen zu beantworten. In Wirklichkeit basiert ChatGPT auf einem Large Language Model (LLM), das mit einem gigantischen, aber statischen Textkorpus trainiert wurde. Dieser Datensatz hat einen festen Stichtag – den sogenannten „Knowledge Cutoff“. Für GPT-4 liegt dieser Zeitpunkt im April 2023, für das ältere GPT-3.5 sogar schon im September 2021.

Stellt euch das Modell wie eine riesige, eingefrorene Bibliothek vor. Alles Wissen, das nach dem Stichtag veröffentlicht wurde, existiert für das Basismodell schlichtweg nicht. Eine Umfrage des Pew Research Centers zeigt: Ganze 67% der ChatGPT-Nutzer glauben fälschlicherweise, dass die KI Echtzeit-Zugang zum Web hat. Noch bedenklicher: 43% überprüfen die Aktualität der erhaltenen Informationen überhaupt nicht.

Diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität erklärt, warum ChatGPT bei Fragen zu aktuellen Ereignissen, Marktdaten oder Breaking News oft daneben liegt – oder schlimmer noch, plausibel klingende, aber komplett erfundene Antworten liefert.

Der „Browse with Bing“-Modus: ChatGPTs Fenster zur aktuellen Welt

Um das Aktualitätsproblem zu adressieren, hat OpenAI für zahlende ChatGPT-Plus-Nutzer die „Browse with Bing“-Funktion eingeführt. Diese Erweiterung war jedoch keine reibungslose Erfolgsgeschichte – sie wurde mehrfach eingeführt, pausiert und wieder aktiviert, zuletzt im September 2023. Wichtig zu verstehen: Diese Funktion ist nicht standardmäßig aktiv, sondern muss explizit ausgewählt werden. Selbst dann „surft“ ChatGPT nicht frei durchs Web wie ein Mensch mit einem Browser. Stattdessen stellt das System Suchanfragen über die Bing-Suchmaschine, verarbeitet die Ergebnisse und formuliert daraus Antworten. Eine direkte Navigation zu spezifischen URLs ist nicht möglich, und die Suche beschränkt sich auf öffentlich zugängliche Inhalte.

Warum nicht einfach permanent ans Web anschließen?

Die Gründe, warum OpenAI ChatGPT nicht standardmäßig mit permanentem Web-Zugang ausstattet, sind vielschichtig und reichen weit über reine Designentscheidungen hinaus. Sicherheitsbedenken stehen ganz oben auf der Liste – ein ungefilterter Zugang zum Web würde das Risiko erhöhen, dass das Modell schädliche oder manipulative Inhalte aufnimmt und weiterverbreitet.

Hinzu kommt die Qualitätskontrolle: Das Internet ist voll von Fehlinformationen und unzuverlässigen Quellen. Ohne ausgefeilte Filtermechanismen könnte ChatGPT diese unkritisch übernehmen und mit der Autorität eines vermeintlich allwissenden Systems präsentieren.

Auch technische und wirtschaftliche Faktoren spielen eine Rolle. Echtzeit-Webabfragen würden die Antwortzeiten deutlich verlängern und die Betriebskosten in die Höhe treiben. Die Transformer-Architektur hinter GPT ist zudem für die Verarbeitung statischer Datensätze optimiert – nicht für dynamische Echtzeit-Abfragen.

Yann LeCun, KI-Forscher bei Meta, bringt es auf den Punkt: „Echtzeit-Webzugang ist technisch machbar, aber die Qualitätskontrolle bleibt die größte Herausforderung.“

Die Konkurrenz schläft nicht: Google Gemini und Microsoft Copilot

Während ChatGPT mit seinem Knowledge-Cutoff kämpft, haben andere KI-Assistenten die Web-Integration bereits stärker vorangetrieben. Google Gemini (früher Bard) verfügt über einen direkten Zugriff auf die Google-Suche und kann aktuelle Informationen in Echtzeit abrufen. Das System kennzeichnet zudem Informationen mit einem Aktualitätsdatum, was die Transparenz erhöht.

Microsoft Copilot, tief in die Bing-Suche integriert, bietet standardmäßig Echtzeit-Webzugriff und zitiert Quellen mit aktuellen Links. Diese engere Verzahnung mit Suchmaschinen-Technologie gibt Gemini und Copilot einen klaren Vorteil bei aktuellen Themen.

Halluzinationen: Wenn KI-Modelle Fakten erfinden

Das vielleicht gefährlichste Problem beim Fehlen aktueller Daten sind sogenannte „Halluzinationen“ – plausibel klingende, aber frei erfundene Informationen. Besonders tückisch: Je aktueller das angefragte Thema, desto wahrscheinlicher werden diese Fehlinformationen, da das Modell keine echten Daten hat, auf die es zurückgreifen kann.

Ein klassisches Beispiel: Fragt ihr ChatGPT nach dem aktuellen Aktienkurs eines Unternehmens oder nach dem Gewinner eines gestrigen Sportereignisses, könnte das Modell mit großer Überzeugung eine komplett erfundene Antwort liefern – ohne jeglichen Hinweis darauf, dass diese Information reine Spekulation ist.

Dr. Emily Bender von der University of Washington warnt: „Die Illusion des Internetzugangs bei LLMs ist gefährlicher als der tatsächlich fehlende Zugang, weil Nutzer falsche Erwartungen entwickeln.“ Diese falsche Sicherheit kann zu fehlgeleiteten Geschäftsentscheidungen führen, wenn ihr unkritisch auf vermeintlich aktuelle KI-Antworten vertraut.

Retrieval-Augmented Generation: Der vielversprechende Lösungsansatz

Ein vielversprechender Ansatz zur Überwindung der Aktualitätsprobleme ist die sogenannte Retrieval-Augmented Generation (RAG). Diese Technologie kombiniert die Stärken von LLMs mit dynamischen Informationsabrufsystemen. Statt sich ausschließlich auf vortrainiertes Wissen zu verlassen, fragt ein RAG-System bei Bedarf externe Datenbanken oder das Web ab, um aktuelle Informationen einzuholen.

Der Vorteil: RAG-Systeme können sowohl auf ihr umfassendes Basiswissen zurückgreifen als auch präzise, aktuelle Fakten liefern. Zudem lassen sich die Quellen der abgerufenen Informationen transparent nachverfolgen, was die Vertrauenswürdigkeit erhöht. Für Unternehmen bietet dieser Ansatz die Möglichkeit, interne Wissensdatenbanken mit KI-Systemen zu verbinden – ohne sensible Daten an externe Anbieter weiterzugeben.

Praktische Tipps für den Unternehmensalltag

Um trotz der Limitationen das Maximum aus ChatGPT und ähnlichen KI-Systemen herauszuholen, solltet ihr einige Grundregeln beachten. Nutzt bei zeitkritischen Themen immer die „Browse with Bing“-Funktion, falls verfügbar. Diese aktiviert ihr über das Modell-Auswahlmenü, indem ihr GPT-4 mit Web-Browsing auswählt. Selbst dann gilt: Verifiziert wichtige Informationen über traditionelle Suchmaschinen oder vertrauenswürdige Quellen.

Für datenintensive Geschäftsentscheidungen empfiehlt sich ein Hybrid-Ansatz: Nutzt ChatGPT für die Ideenfindung, Strukturierung und Formulierung, aber speist aktuelle Daten selbst ein. Ein einfacher Trick: Gebt dem Modell aktuelle Informationen direkt in eurer Anfrage mit, etwa: „Unter Berücksichtigung, dass der DAX heute bei 18.500 Punkten steht, analysiere die Marktlage.“

Besonders effektiv für Unternehmen: Baut eigene RAG-Systeme auf, die eure internen Datenbanken mit LLM-Technologie verbinden. So kombiniert ihr die Kreativität und Sprachfähigkeit von KI-Modellen mit der Aktualität und Relevanz eurer eigenen Daten.

Die Zukunft: Wie entwickelt sich der Web-Zugang von KI-Systemen?

Die Roadmap von OpenAI deutet auf eine verstärkte Web-Integration in zukünftigen Versionen hin. Der Wettbewerbsdruck durch Google und Microsoft dürfte diese Entwicklung beschleunigen. Laut einem Reuters-Bericht plant OpenAI „major updates“ für ChatGPT, die auch die Echtzeitfähigkeiten verbessern sollen.

Gleichzeitig zeichnen sich regulatorische Herausforderungen ab. Mit zunehmender Web-Interaktion von KI-Systemen werden Fragen zu Urheberrecht, Datenschutz und Verantwortlichkeit drängender. Die EU-KI-Verordnung und ähnliche Regulierungen weltweit könnten die Art und Weise, wie KI-Systeme auf Webinhalte zugreifen dürfen, maßgeblich beeinflussen.

Technologisch ist der Trend klar: Weg von isolierten Sprachmodellen hin zu multimodalen Systemen, die verschiedene Datenquellen nahtlos integrieren. Die Vision sind KI-Assistenten, die sowohl über ein tiefes Grundverständnis verfügen als auch aktuelle, verifizierte Informationen liefern können.

Chancen für spezialisierte KI-Lösungen im Unternehmenseinsatz

Die Limitationen der großen, allgemeinen KI-Modelle eröffnen Chancen für spezialisierte Enterprise-Lösungen. Während ChatGPT und Co. mit ihren Knowledge-Cutoffs kämpfen, können maßgeschneiderte Unternehmenslösungen direkt an interne Datenbanken, CRM-Systeme und Business-Intelligence-Tools angebunden werden. Diese Integration ermöglicht KI-Assistenten, die sowohl über aktuelles Fachwissen als auch über unternehmensspezifische Informationen verfügen.

Ein weiterer Vorteil spezialisierter Lösungen: Die Datenkontrolle bleibt vollständig in eurer Hand. Statt sensible Geschäftsdaten an externe KI-Provider zu senden, bleibt alles in eurer eigenen Infrastruktur. Für viele regulierte Branchen wie Finanzdienstleistungen, Gesundheitswesen oder Rechtsberatung ist dieser Aspekt entscheidend.

Der Journalismus als Vorbild: Faktencheck und Quellenangaben

Im Umgang mit KI-generierten Inhalten können wir viel vom Qualitätsjournalismus lernen. Gute Journalisten verlassen sich nie auf eine einzige Quelle, sondern verifizieren Informationen durch Kreuzcheck mehrerer unabhängiger Quellen. Genau diese Sorgfaltspflicht solltet ihr auch bei der Nutzung von ChatGPT und ähnlichen Systemen walten lassen.

Besonders bei geschäftskritischen Entscheidungen gilt: Nutzt KI als Ausgangspunkt, nicht als finale Informationsquelle. Fordert das KI-System aktiv auf, seine Quellen anzugeben, und überprüft diese. Bei wichtigen Fakten lohnt sich immer der Abgleich mit offiziellen Webseiten, Fachpublikationen oder direkten Kontakten zu Experten.

Der McKinsey-Report „The state of AI in 2023“ unterstreicht die Bedeutung dieser Praxis: Unternehmen, die KI erfolgreich einsetzen, haben typischerweise robuste Prozesse zur Validierung KI-generierter Outputs etabliert.

Von der Limitation zur Innovation: Wie Einschränkungen neue Lösungen fördern

Paradoxerweise könnten gerade die aktuellen Limitationen von ChatGPT zu den interessantesten Innovationen führen. Die Notwendigkeit, aktuelle Informationen einzubinden, treibt die Entwicklung hybrider Systeme voran, die das Beste aus beiden Welten vereinen: die Sprachfähigkeiten und das Kontextverständnis von LLMs kombiniert mit der Aktualität und Präzision spezialisierter Informationssysteme.

Für Unternehmen bedeutet dies: Wer heute in die Entwicklung eigener, maßgeschneiderter KI-Lösungen investiert, könnte morgen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil haben. Die Zukunft gehört nicht den isolierten KI-Modellen, sondern integrierten Systemen, die nahtlos mit eurer bestehenden Dateninfrastruktur zusammenarbeiten.

Besonders spannend sind die Möglichkeiten im Bereich der kontinuierlichen Weiterbildung von KI-Systemen. Statt auf statische Trainingsdaten angewiesen zu sein, könnten zukünftige Modelle kontinuierlich lernen und sich an neue Informationen anpassen – ähnlich wie Menschen, die täglich Neues lernen und ihr Wissen aktualisieren.

Der Durchbruch: Wissen ist wertvoll, aber Aktualität entscheidet

Die aktuelle Situation von ChatGPT und ähnlichen Systemen erinnert an die frühen Tage des Internets: enorm leistungsfähig, aber mit deutlichen Wachstumsschmerzen. Während die grundlegende Sprachfähigkeit und das Kontextverständnis beeindruckend sind, bleibt die Aktualitätslücke eine ernsthafte Herausforderung für den Businesseinsatz.

Diese Herausforderung bietet jedoch auch Chancen für agile Unternehmen und innovative Entwickler. Wer die Stärken von LLMs nutzt und gleichzeitig ihre Schwächen durch clevere Integration mit aktuellen Datenquellen ausgleicht, kann schon heute leistungsstarke KI-Lösungen schaffen, die einen echten Wettbewerbsvorteil bieten.

Die Zukunft der KI liegt nicht in isolierten, allwissenden Systemen, sondern in intelligenten Netzwerken spezialisierter Komponenten, die zusammenarbeiten, um komplexe Aufgaben zu lösen – genau wie erfolgreiche Teams in euren Unternehmen.

OpenAI Help Center – ChatGPT Release Notes

OpenAI Blog – Introducing ChatGPT

OpenAI Blog – ChatGPT can now browse the internet and run code

Google Blog – An important next step on our AI journey (Sundar Pichai)

Microsoft Blog – Reinventing search with a new AI-powered Microsoft Bing and Edge

arXiv – The False Promise of Imitating Proprietary LLMs (Arnav Gudibande et al.)

OpenAI Research – GPT-4 Technical Report

Pew Research Center – How Americans Think About AI (Colleen McClain)

arXiv – Retrieval-Augmented Generation for Knowledge-Intensive NLP Tasks (Patrick Lewis et al.)

Reuters – OpenAI plans major updates to ChatGPT this year (Anna Tong)

University of Washington – On the Dangers of Stochastic Parrots (Emily M. Bender et al.)

Twitter – Yann LeCun Tweet vom März 2023

McKinsey – The state of AI in 2023: Generative AI’s breakout year

About the author

Bild von Frank Heine

Frank Heine

Frank Heine ist spezialisiert auf Startups, Mobility, Gadgets und KI. Als digitaler Analyst recherchiert er in der Tiefe, vernetzt weltweite Trends und bereitet sie klar und nachvollziehbar auf - zu breitem internationalem Know-how, kompakt zusammengefasst in verständliche Stories.
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