Wenn ein Luxushaus mit 187-jähriger Handwerkstradition plötzlich mit Biotechnologie-Startups kooperiert und Pilzleder entwickelt, ist etwas Bemerkenswertes im Gange. Hermès, das Pariser Modehaus, dessen Birkin Bags für fünfstellige Summen gehandelt werden, vollzieht einen bemerkenswerten Balanceakt: Die Verschmelzung jahrhundertealter Handwerkskünste mit Hightech-Innovation. Diese Synthese – Digital Craftsmanship genannt – revolutioniert die Art und Weise, wie Luxusgüter konzipiert, hergestellt und vermarktet werden.
Digital Craftsmanship: Wie Hermès Tradition und Innovation neu definiert
Die digitale Transformation von Luxusmarken steht oft vor einem fundamentalen Dilemma: Wie bewahrt man das Erbe und exklusive Handwerkskunst, während man gleichzeitig die Vorteile modernster Technologien nutzt? Hermès hat darauf eine bemerkenswerte Antwort gefunden. Statt Technologie als Bedrohung für das Handwerk zu betrachten, setzt das Haus auf „Digital and Sustainable Innovation“ – einen Ansatz, der traditionelle Fertigkeiten mit digitalen Werkzeugen verstärkt und erweitert.
Diese Strategie zahlt sich aus: Mit einem Umsatz von 13,9 Milliarden Euro in den letzten 12 Monaten und einem Wachstum von 13% trotzt Hermès dem allgemeinen Abschwung im Luxussektor. Während Konkurrent LVMH im ersten Quartal 2024 nur 4% Umsatzwachstum verzeichnete, erreichte Hermès eine beeindruckende EBITDA-Marge von 48,6% – ein Zeichen dafür, dass die Verbindung von Handwerk und Hightech auch finanziell überzeugt.
Um diesen Erfolg langfristig zu sichern, beschleunigt Hermès die Konsolidierung seiner Lieferantenbeziehungen und investiert in vertikale Integration. Durch strategische Partnerschaften und Akquisitionen gewährleistet das Unternehmen nicht nur die Rückverfolgbarkeit seiner Lieferketten, sondern sichert auch die Weiterentwicklung von Materialien, Techniken und dem kostbaren Savoir-faire.
Sylvania: Wenn Pilzmyzel auf Luxushandwerk trifft
Die wohl faszinierendste Manifestation von Hermès‘ Digital Craftsmanship ist die Partnerschaft mit dem Biotechnologie-Unternehmen MycoWorks. Nach drei Jahren intensiver Entwicklungsarbeit präsentierten die beiden Unternehmen Sylvania – ein pilzbasiertes Material, das die Eigenschaften von Leder nachahmt, aber vollständig vegan und nachhaltig ist. Dieses innovative Material basiert auf MycoWorks‘ patentierter Fine Mycelium-Technologie, die das komplexe Netzwerk von Filamenten in Pilzen nutzt, um eine Struktur zu schaffen, die in Stärke und Haptik traditionellem Leder ähnelt.
Der Hightech-Entstehungsprozess hinter Sylvania
Der Produktionsprozess von Sylvania verbindet Biotechnologie mit traditioneller Handwerkskunst in einer faszinierenden Synthese. Zunächst wird das Fine Mycelium in MycoWorks‘ kalifornischer Anlage unter kontrollierten Bedingungen gezüchtet. Dabei werden die Pilzfasern so manipuliert, dass sie die gewünschten strukturellen Eigenschaften entwickeln.
Anschließend wird das Material nach Frankreich transportiert, wo Hermès-Gerber es mit denselben traditionsreichen Methoden behandeln, die sie seit Generationen für Kalbsleder verwenden. Diese Kombination aus Hightech-Biotechnologie und jahrhundertealtem Handwerk verleiht Sylvania seine einzigartigen Eigenschaften.
Die erste Anwendung dieses revolutionären Materials fand in einer Neuinterpretation der klassischen Victoria-Reisetasche statt. Hermès erkannte, dass MycoWorks‘ biotechnologischer Ansatz zur Verbesserung eines natürlichen Materials das Potenzial hatte, das hochwertigste Myzelium der Welt zu schaffen – ein Material, das den strengen Qualitätsansprüchen des Hauses gerecht werden konnte.
Apple Watch Hermès: Die perfekte Symbiose aus Silicon Valley und Pariser Handwerkskunst
Ein weiteres Paradebeispiel für Hermès‘ Digital Craftsmanship ist die langfristige Partnerschaft mit Apple. Seit 2015 verbindet die Apple Watch Hermès Apples technologische Innovation mit dem Erbe, der Ikonografie und dem Handwerk von Hermès. Was als Experiment begann, hat sich zu einer dauerhaften Kollaboration entwickelt, die beide Marken bereichert.
Die neuesten Entwicklungen – Apple Watch Hermès Ultra 2 und Apple Watch Hermès Series 10 – zeigen, wie tief diese Integration mittlerweile reicht. Hermès hat für diese Geräte exklusive digitale Zifferblätter entwickelt, die die charakteristischen Cape Cod-Ziffern der traditionellen Hermès-Uhren in die digitale Welt übertragen. Das Maritime-Zifferblatt ist das erste vollständig digitale Design des Modehauses und verfügt über einen speziellen Regatta-Countdown-Timer – ein Feature, das die funktionalen Anforderungen von Technik-Enthusiasten mit der ästhetischen Sensibilität von Luxuskunden verbindet.
Augmented Reality: Virtuelle Anproben mit realer Wirkung
Hermès erweitert die Kundenerfahrung durch innovative Augmented-Reality-Lösungen. Besonders bemerkenswert ist die virtuelle Anprobe für die ikonischen Seidenschals der Marke. Diese AR-Technologie ermöglicht es Kunden, verschiedene Muster und Tragevarianten in Echtzeit zu visualisieren, ohne physisch im Geschäft sein zu müssen.
Ergänzt wird dieses Angebot durch speziell entwickelte Instagram-AR-Filter. Diese niedrigschwelligen digitalen Erlebnisse machen es besonders für jüngere Zielgruppen einfacher, mit der Marke zu interagieren. Le Boudoir Numérique testete diese Filter und demonstrierte drei verschiedene Arten, das berühmte Carré des französischen Hauses zu tragen – ein spielerischer Einstieg in die Welt von Hermès, der die Hemmschwelle senkt, mit einer Luxusmarke in Kontakt zu treten.
Noch einen Schritt weiter gehen KI-gestützte virtuelle Styling-Lösungen. Diese Plattformen bieten personalisierte Stilberatung und helfen Kunden dabei, zu visualisieren, wie Produkte zu ihrer Garderobe oder ihren Vorlieben passen. Ob bei der Auswahl des richtigen Schal-Musters zu einem Anzug oder der Wahl der perfekten Handtasche für einen besonderen Anlass – diese digitalen Tools verbessern die Entscheidungsfindung und schaffen eine Brücke zwischen Online- und In-Store-Shopping.
Die E-Commerce-Evolution: Vom Pionier zum Perfektionisten
Als erste Luxusmarke, die bereits 2001 eine E-Commerce-Website startete, bewies Hermès früh ein Gespür für die Bedeutung digitaler Vertriebskanäle. 2017 erklärte das Unternehmen dann zum Jahr seiner digitalen Transformation und intensivierte seine Online-Aktivitäten erheblich.
Heute verfolgt Hermès eine ausgefeilte Omnichannel-Strategie, die physische und digitale Vertriebswege nahtlos integriert. Die exklusiven Geschäfte dienen dabei als wichtigste Markenverstärker, während die digitalen Kanäle kontinuierlich ausgebaut werden. 2023 investierte das Unternehmen 392 Millionen Euro in Immobilien, um Markensichtbarkeit und Kundenerfahrung weiter zu verbessern.
KI im Luxushandwerk: Personalisierung auf höchstem Niveau
Künstliche Intelligenz spielt eine zunehmend wichtige Rolle in Hermès‘ Digital-Craftsmanship-Strategie. In den physischen Geschäften nutzen Verkaufsberater KI-gestützte Kundensysteme, die ihnen Zugriff auf Kundenprofile und Kaufhistorien geben. Diese Technologie ermöglicht fundierte Produktempfehlungen während der persönlichen Beratung – ein Beispiel dafür, wie Hightech die menschliche Interaktion nicht ersetzt, sondern verstärkt.
Auch im Bereich Nachhaltigkeit setzt Hermès auf KI-Lösungen. Von der Optimierung von Ressourcen über die Erforschung innovativer Materialien bis hin zur Reduzierung von CO2-Emissionen – künstliche Intelligenz hilft dem Unternehmen, seine operativen Abläufe mit seinen Nachhaltigkeitszielen in Einklang zu bringen. Dies zeigt, wie Technologie die Luxusmode in ein Modell für Umweltverantwortung transformieren kann.
Vertikale Integration: Die technologische Basis für Exzellenz
Ein Schlüsselelement in Hermès‘ Strategie ist die konsequente vertikale Integration, die durch Technologie unterstützt wird. 2024 verstärkte das Unternehmen seine Produktionskapazitäten in allen Geschäftsbereichen, insbesondere im Bereich Mode und Lederwaren. Mit der Eröffnung eines 23. Produktionsstandorts in Riom in der Region Puy-de-Dôme und der Erweiterung des Standorts für Parfüm und Schönheitsprodukte in der Normandie setzt Hermès seinen Expansionskurs fort.
Bemerkenswert ist, dass 55% der Produkte in hauseigenen und exklusiven Werkstätten hergestellt werden und 74% in Frankreich produziert werden. Diese starke vertikale Integration ermöglicht es Hermès, höchste Qualitätsstandards zu gewährleisten und gleichzeitig die Rückverfolgbarkeit und Nachhaltigkeit seiner Produkte zu verbessern.
Finanzielle Stärke als Basis für Innovation
Die beeindruckende finanzielle Performance von Hermès bildet das Fundament für seine ambitionierten Digital-Craftsmanship-Initiativen. Mit einer EBITDA-Marge von 48,6% im Geschäftsjahr 2023 verfügt das Unternehmen über die nötigen Ressourcen, um sowohl in traditionelles Handwerk als auch in zukunftsweisende Technologien zu investieren.
Diese finanzielle Unabhängigkeit und das strenge Finanzmanagement ermöglichen es Hermès, operative Investitionen in Produktionskapazitäten, Netzwerkinfrastruktur und bereichsübergreifende Projekte aus eigener Kraft zu finanzieren. Über einen Zeitraum von drei Jahren erhöhte das Unternehmen seine operativen Investitionen um 2,4 Milliarden Euro, wovon 67% in Frankreich getätigt wurden – ein klares Bekenntnis zum Produktionsstandort und zur Förderung lokaler Handwerkskunst.
Der Balanceakt zwischen digitaler Innovation und handwerklicher Tradition
Trotz der beeindruckenden Erfolge steht Hermès vor der kontinuierlichen Herausforderung, Innovation mit der Bewahrung seiner Kernwerte in Einklang zu bringen. Während viele Unternehmen im Luxussektor sich noch nicht an einer umfassenden digitalen Transformation beteiligt haben und nur spezifische Aspekte ihrer Abläufe digitalisiert haben, geht Hermès einen ganzheitlicheren Weg.
Die Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Luxusunternehmen zwar digitale Tools annehmen müssen, um den Erwartungen digital nativer Verbraucher gerecht zu werden, dabei aber ihre Identität nicht verwässern dürfen. Hermès meistert diesen Balanceakt, indem es Technologie nicht als Selbstzweck betrachtet, sondern als Mittel, um das Handwerk zu stärken und die Kundenerfahrung zu verbessern.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Entwicklung und Förderung von Talenten. Hermès‘ hochintegriertes Handwerksmodell hat zur Schaffung zahlreicher qualifizierter Arbeitsplätze in Frankreich beigetragen und fördert soziale Inklusion. In den letzten zehn Jahren hat das Unternehmen seine Belegschaft mehr als verdoppelt, wobei mehr als 60% der Neueinstellungen in Frankreich stattfinden. Diese Vielfalt an Talenten betrachtet Hermès als Quelle von Reichtum, Kreativität und Innovation – menschliche Faktoren, die auch im digitalen Zeitalter unersetzlich bleiben.
Die Zukunft des Luxus: Handwerk 2.0
Hermès‘ Ansatz des Digital Craftsmanship zeigt beispielhaft, wie eine Traditionsmarke nahtlos modernste Technologie integrieren kann, während sie ihre zeitlose Identität bewahrt. Durch innovative Anwendungen in den Bereichen Kundenpersonalisierung, Predictive Analytics, Lieferkettenoptimierung, Design-Augmentation und Nachhaltigkeitsbemühungen beweist Hermès, dass Technologie und Tradition nicht nur koexistieren, sondern sich gegenseitig verstärken können.
Die Strategie verdeutlicht, dass Digital Craftsmanship nicht bedeutet, traditionelles Handwerk zu ersetzen, sondern es durch Technologie zu erweitern und zu verbessern. Von der Entwicklung nachhaltiger Materialien wie Sylvania bis hin zur Integration von KI und AR in die Kundenerfahrung – Hermès definiert neu, was Luxushandwerk im digitalen Zeitalter bedeuten kann und setzt Maßstäbe für die gesamte Branche.
Handwerk trifft Hightech: Das Erfolgsrezept für die Zukunft
Der Erfolg von Hermès basiert auf einer klaren Erkenntnis: Im digitalen Zeitalter gewinnen nicht diejenigen, die blind auf Tradition setzen oder sich kopflos in jede technologische Mode stürzen. Die Gewinner sind vielmehr jene, die das Beste aus beiden Welten verbinden – die Authentizität und Qualität des traditionellen Handwerks mit der Effizienz und Innovationskraft moderner Technologie.
Diese Synthese erschafft etwas völlig Neues: ein Luxuserlebnis, das sowohl zeitlos als auch zeitgemäß ist, sowohl exklusiv als auch zugänglich, sowohl traditionsbewusst als auch zukunftsorientiert. Hermès zeigt, dass der Weg in die Zukunft des Luxus nicht in der Ablehnung des Digitalen liegt, sondern in seiner intelligenten Integration. Für Luxusmarken und Premium-Unternehmen jeder Branche birgt dieser Ansatz wertvolle Lektionen: Nutzt Technologie nicht als Ersatz, sondern als Verstärker eurer Kernkompetenzen. Bewahrt, was euch einzigartig macht, während ihr mutig neue Wege beschreitet.
mycoworks.com – An Exclusive Collaboration by Hermès and MycoWorks
medium.com – Green Glamour: Hermès‘ Sylvania and the Rise of Mushroom Leather Luxury (Lilian M Raji)
thepradvisor.com – Green Glamour: Hermès‘ Sylvania and the Rise of Mushroom Leather Luxury
russh.com – The Hermès Apple Watch Series 6: Here’s what’s new 2020
hermes.com – Apple Watch Hermès | Hermès USA
beginnerluxurywatch.com – What Is Apple Watch Hermès Series 9? A Complete Guide
medium.com – Integrating augmented reality (AR) for virtual product try-ons
virtualrealitymarketing.com – Hermès: Hors Les Murs – Virtual Reality Marketing
boudoirnumerique.com – Augmented reality to try the Hermès scarf
saxo.com – Hermès: The pinnacle of timeless luxury and craftsmanship
g-co.agency – Hermès, an eCommerce Case Study
thepradvisor.com – Hermès Innovation: Creative Luxury, Honoring Craftsmanship, and Curating Distribution
digitaldefynd.com – 5 ways Hermes is using AI [Case Study]
finance.hermes.com – Strategy – Hermès Finance
sciencedirect.com – Is the digitalisation the future of the luxury industry?
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