Ein historischer Wendepunkt für Japans Energiepolitik: Nach fast 15 Jahren Stillstand hat die Präfektur Niigata für den Neustart des weltweit größten Atomkraftwerks Kashiwazaki-Kariwa gestimmt. Mit dieser Entscheidung wagt Japan den nächsten Schritt in seiner nuklearen Renaissance – trotz massiver Proteste und dem langen Schatten der Fukushima-Katastrophe. Für Betreiber TEPCO bedeutet der Neustart nicht nur ein Milliardengeschäft, sondern auch die Chance auf wirtschaftliche Rehabilitation.
Zurück zur Atomkraft: Japans energiepolitische Kehrtwende
Das Kashiwazaki-Kariwa Atomkraftwerk ist ein wahres Kraftpaket: Mit sieben Reaktoren und einer Gesamtkapazität von 8,2 Gigawatt könnte es zum Gamechanger für Japans Energieversorgung werden. Seit dem verheerenden Tsunami und der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 stehen alle Reaktoren still – ein Zustand, den die neue Premierministerin Sanae Takaichi nun beenden will.
Die Abstimmung in der Präfekturversammlung von Niigata markiert den entscheidenden Durchbruch. Mit dem Vertrauensvotum für Gouverneur Hideyo Hanazumi, der den Neustart bereits im November unterstützte, ist der Weg für die Wiederinbetriebnahme frei. TEPCO plant, den 1.356-Megawatt-Reaktor der Einheit 6 bereits im Januar ans Netz zu bringen – als ersten TEPCO-Reaktor seit dem Fukushima-Unfall.
Milliardengeschäft mit enormen wirtschaftlichen Implikationen
Die wirtschaftlichen Dimensionen des Neustarts sind beeindruckend: Allein der Betrieb von Einheit 6 könnte die Stromversorgung für das energiehungrige Tokio-Gebiet um zwei Prozent verbessern und TEPCOs Einnahmen jährlich um rund 100 Milliarden Yen (672 Millionen US-Dollar) steigern. Für Japan, das im vergangenen Jahr 10,7 Billionen Yen (68 Milliarden US-Dollar) für importiertes Flüssigerdgas und Kohle ausgab – ein Zehntel seiner gesamten Importkosten – bedeutet jeder reaktivierte Reaktor einen wichtigen Schritt in Richtung Energiesouveränität. Der Neustart steht im Zentrum von Japans 7. Strategischem Energieplan, der die „maximale Nutzung der Kernenergie“ vorsieht und den Anteil der Atomkraft an der Stromerzeugung bis 2040 auf 20 Prozent verdoppeln will.
Sicherheit neu definiert – die Lehren aus Fukushima
Die Erinnerung an die Katastrophe von Fukushima sitzt tief: Die Kosten für Stilllegung, Dekontaminierung und Entschädigungen werden auf 195 Milliarden US-Dollar geschätzt. Bis 2022 flossen bereits 12,1 Billionen Yen – davon 7 Billionen für Entschädigungen an die Opfer.
TEPCO hat aus den bitteren Erfahrungen gelernt und das Kraftwerk umfassend modernisiert: Verstärkte seismische Sicherungen, neue Containment-Gebäude, verbesserte Notkühlsysteme und Evakuierungsprotokolle sollen die Anlage widerstandsfähiger machen. Die Aufsichtsbehörden betonen, dass das Kraftwerk internationale Sicherheitsstandards nun erfüllt oder sogar übertrifft.
Doch nicht alle sind überzeugt: Eine Umfrage der Präfektur ergab, dass 60 Prozent der Einwohner bezweifeln, dass die Bedingungen für einen sicheren Neustart erfüllt sind. Fast 70 Prozent äußerten Bedenken darüber, dass ausgerechnet TEPCO – der Betreiber des havarierten Fukushima-Kraftwerks – die Anlage betreiben soll.
Zwischen Protest und Pragmatismus
Die Entscheidung spaltet die japanische Gesellschaft. Vor der Präfekturversammlung versammelten sich rund 300 Demonstranten mit Bannern wie „No Nukes“ und „Unterstützt Fukushima“. Unter ihnen Ayako Oga, eine 52-jährige Landwirtin und Anti-Atom-Aktivistin, die 2011 mit 160.000 anderen aus der Fukushima-Sperrzone fliehen musste. Für sie und viele andere Betroffene ist der Neustart ein Verrat an den Lehren der Katastrophe.
Andererseits steht Japan vor enormen energiepolitischen Herausforderungen. Premierministerin Takaichi sieht in der Kernkraft einen Schlüssel zur Energiesicherheit und hat sich dafür ausgesprochen, die Entwicklung fortschrittlicher Nukleartechnologien wie Fusion zu beschleunigen. Ihr Ziel: Japan durch den Einsatz von Reaktoren der nächsten Generation langfristig energieautark zu machen.
Der Preis der Energie – mehr als nur Kilowattstunden
Die Debatte um Kashiwazaki-Kariwa zeigt eindrücklich die komplexen Abwägungen moderner Energiepolitik. Während die wirtschaftlichen Vorteile der Kernkraft unbestreitbar sind – günstige Grundlastversorgung, keine direkten CO2-Emissionen, reduzierte Importabhängigkeit – bleiben die gesellschaftlichen Kosten schwer zu beziffern.
Was in Niigata passiert, ist mehr als ein lokaler Energieentscheid: Es ist ein Lackmustest für Japans Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten und gleichzeitig pragmatische Zukunftsentscheidungen zu treffen. Der Neustart von Kashiwazaki-Kariwa wird zeigen, ob Japan den schmalen Grat zwischen Energiesicherheit und Verantwortung meistern kann.
world-nuclear-news.org – Niigata governor consents to restart of Kashiwazaki-Kariwa reactors
koreatimes.co.kr – Japan prepares to restart world’s biggest nuclear plant, 15 years after Fukushima
moderndiplomacy.eu – Japan Considers Restarting World’s Largest Nuclear Plant Amid Energy Crunch
japantimes.co.jp – Japan’s new leader to make nuclear center of energy strategy