Die Wall Street steht vor einer historischen Wende: Mit der Einreichung des Formulars 19b-4 bei der SEC hat die Nasdaq konkrete Pläne vorgelegt, um Aktien und ETPs in tokenisierter Form handelbar zu machen. Was auf den ersten Blick wie ein technisches Detail wirkt, könnte die Infrastruktur der Finanzmärkte grundlegend transformieren. Die zweitgrößte Börse der Welt setzt damit ein klares Signal: Blockchain-Technologie wird zum integralen Bestandteil des etablierten Finanzsystems.
So funktioniert Nasdaqs Tokenisierungsansatz
Der Vorschlag der Nasdaq zielt darauf ab, Anlegern die Wahl zu geben: Bei jeder Order können sie entscheiden, ob sie Wertpapiere in traditioneller digitaler oder in tokenisierter Form handeln möchten. Die Depository Trust Company (DTC) übernimmt dabei die entscheidende Backend-Arbeit für Clearing und Settlement – sie wandelt die Buchungsposition des Teilnehmers in Token um und liefert diese an die registrierte digitale Wallet.
Besonders wichtig: Die tokenisierten Wertpapiere bleiben vollständig fungibel mit ihren traditionellen Pendants. Sie behalten dieselbe CUSIP-Nummer und gewähren identische Rechte wie Stimmrechte, Dividendenansprüche und Liquidationsrechte. Damit unterscheidet sich der Nasdaq-Ansatz fundamental von einigen europäischen Plattformen, die tokenisierte „Aktien“ ohne vollständige Aktionärsrechte und oft ohne Zustimmung der Emittenten anbieten.
Die technische Umsetzung erfolgt durch spezifische Änderungen der Nasdaq-Regeln, die es Teilnehmern ermöglichen, Orders für tokenisiertes Settlement zu kennzeichnen, ohne dass dies die Ausführungspriorität beeinflusst.
Warum die Wall Street jetzt auf Blockchain-Infrastruktur umstellt
Der Zeitpunkt für Nasdaqs Vorstoß ist kein Zufall. Der Markt für tokenisierte Assets hat bereits die 24-Milliarden-Dollar-Marke überschritten – ein Anstieg von 380% seit 2022. Und die Wachstumsprognosen sind beeindruckend: Larry Fink von BlackRock projiziert eine Expansion von etwa 2 Billionen Dollar im Jahr 2025 auf mehr als 13 Billionen Dollar bis 2030. Die Boston Consulting Group und Ripple gehen sogar noch weiter und prognostizieren einen Markt von 18,9 Billionen Dollar bis 2033. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Tokenisierung von Vermögenswerten kein Nischenthema mehr ist, sondern ein zentraler Wachstumsmarkt für die kommenden Jahre.
Regulatorische Unterstützung ebnet den Weg
Entscheidend für den Erfolg der Nasdaq-Initiative ist die wachsende regulatorische Klarheit. SEC-Kommissarin Hester Peirce hat bereits im Juli 2025 eine klare Position bezogen: „Tokenisierte Wertpapiere sind immer noch Wertpapiere“ – und unterliegen damit den bestehenden Wertpapiergesetzen.
Diese Einordnung schafft Rechtssicherheit für Emittenten und Investoren. Gleichzeitig signalisierte Peirce Kooperationsbereitschaft: Wenn einzigartige Aspekte der Technologie Regeländerungen rechtfertigen, steht die SEC bereit, mit Marktteilnehmern zusammenzuarbeiten.
Nasdaqs Vorschlag ist bewusst im Einklang mit bestehenden SEC-Vorschriften gestaltet und sucht keine Ausnahmen vom nationalen Marktsystem. Tokenisierte Wertpapiere würden transparent gehandelt, zum National Best Bid and Offer (NBBO) beitragen und den gleichen Überwachungs- und Anlegerschutzmechanismen unterliegen wie traditionelle Wertpapiere.
Kritische Stimmen fordern mehr Transparenz
Nicht alle Marktteilnehmer sind uneingeschränkt begeistert. Ondo Finance hat die SEC aufgefordert, Nasdaqs Regeländerung zu verzögern. Der Hauptkritikpunkt: mangelnde Transparenz bezüglich der DTC-Infrastruktur, die sich noch in Entwicklung befindet.
Ondo Finance argumentiert, dass Nasdaq privilegierten Zugang zu nicht-öffentlichen Informationen von der DTC zu haben scheint – eine Informationsasymmetrie, die kleinere, digital-native Firmen benachteiligen könnte.
Auch Benjamin Schiffrin von Better Markets äußerte Bedenken hinsichtlich des Investorenschutzes: „Es ist nicht klar, dass Investoren tokenisierte Wertpapiere wollen oder brauchen. Die Aufgabe der SEC ist es, Investoren zu schützen, nicht zu tun, was die Krypto-Industrie will.“
Der Weg in die tokenisierte Zukunft
Trotz der Kritik schreitet die Entwicklung voran. Nasdaq prognostiziert, dass US-Investoren die ersten token-abgewickelten Trades bereits Ende 2026 sehen könnten – vorausgesetzt, die DTC hat bis dahin die notwendige Infrastruktur implementiert und alle erforderlichen regulatorischen Genehmigungen erhalten.
Vor dem Start wird Nasdaq seine Mitglieder mindestens 30 Kalendertage im Voraus informieren. Der Erfolg von Projekten wie BlackRocks tokenisiertem Treasury-Fonds BUIDL, der mit 2,85 Milliarden Dollar an verwalteten Vermögenswerten zum größten tokenisierten Real-World Asset weltweit aufgestiegen ist, zeigt das enorme Potenzial dieser Technologie.
Die Tokenisierungs-Revolution ist nicht aufzuhalten
Mit ihrem Vorstoß in die Tokenisierung positioniert sich die Nasdaq an der Spitze einer Entwicklung, die das Potential hat, Kapitalmärkte grundlegend zu verändern. Der regulierte, transparente Ansatz könnte die Brücke schlagen zwischen traditionellen Finanzmärkten und der Welt der digitalen Assets – und damit beiden Seiten neue Wachstumsmöglichkeiten eröffnen.
Für Investoren und Unternehmen bedeutet dies: Die Zeit ist gekommen, sich mit den Chancen der Asset-Tokenisierung zu beschäftigen – denn die Infrastruktur dafür wird gerade vor unseren Augen aufgebaut.
Federal Register – Self-Regulatory Organizations; The Nasdaq Stock Market LLC; Notice of Filing of Proposed Rule Change
SEC.gov – Enchanting, but Not Magical: A Statement on the Tokenization of Securities (Hester Peirce)
Nasdaq – Q&A: Nasdaq’s New Proposal for Tokenized Securities
CoinDesk – Ripple, BCG Project $18.9T Tokenized Asset Market by 2033
TheBlock – Ondo Finance urges more transparency before Nasdaq’s tokenization proposal moves forward